Gescheiterte Beziehung zwischen West und Ost: Kaiser Heinrich IV. (1054-1106) und seine Gattin Eupraxia von Kiew

 

 

Wie konnten Beziehungen über weite Entfernungen geknüpft und gepflegt werden? Die Frage betrifft auch die Beziehungen zwischen Deutschland und dem Kiewer Reich. Welche Absichten gab es, solche Beziehungen einzugehen? Und was waren die Resultate? Der Titel meines Vortrages gibt hierzu schon die Antwort, in dem er von einem Scheitern spricht. Aber was bedeutet Scheitern in diesem Fall? Scheitern meint die Diskrepanz zwischen Intention und Resultat. Dies aber setzt voraus, daß wir wissen, welche Intentionen bestanden haben. Dies fällt indes wegen der geringen Anzahl von Quellen zu der Beziehung zwischen Kaiser Heinrich IV. und der Kiewer Rus und zur Ehe Heinrichs mit der Prinzessin aus dessen Herrscherhaus, Eupraxia, sehr schwer. Aber das Problem ist noch gravierender. Denn auch in anderen Fällen schweigen die mittelalterlichen Quellen fast durchgehend von den Absichten der Handelnden. Was wir viel besser kennen, sind die Handlungen selbst. Von ihnen schließen sehr gerne die Historiker auf Absichten, wobei aber nur allzu oft die vom modernen Historiker angenommene Opportunität, weniger die Auswertung der Quellen die Argumente liefert.

 

Um nicht derselben Gefahr zu erliegen, will ich Scheitern anders verstehen, nämlich nicht als Abweichung von Intentionen, sondern als Abweichung von Idealen, die in der Kultur des 11. Jahrhunderts verankert waren. Scheitern stellt sich dann als moralische Verfehlung, vor allem aber als Verfehlung der Aufgaben des Amtes, in diesem Fall des Königs und der Königin, dar.

Es handelt sich also um eine Diskrepanz zwischen Normen und Ausführungen der Normen. Scheitern von Beziehungen meint außerdem der Abbruch dieser Beziehungen, was sich als Abwesenheit von Handlungen und vor allem von gemeinsamen Handlungen darstellt. Und drittens soll Scheitern vorausgesetzt werden, wenn vergangene Aktionen korrigiert werden, so daß sie künftig keine Auswirkungen haben sollten, vielmehr die Rückkehr zum Ausgangspunkt eintritt. Von allen drei Formen des Scheiterns will ich sprechen.

 

Zwischen dem Kiewer Reich und Deutschland sind die Spuren einer Beziehungsgeschichte nicht zahlreich. Beide Reiche lagen weit von einander entfernt. Deswegen war die Kontaktaufnahme erschwert. Wenig versprach man sich von gegenseitigen Bündnissen und von Kooperationen. Gleichwohl, seit dem 10. Jahrhundert entwickelten die römischen Kaiser, die in Deutschland die oberste Gewalt innehatten, Initiativen, um Kontakte zum Kiewer Reich zu knüpfen, so wie es auch umgekehrt solche Annäherungsversuche gab. So hatte im Jahre 959 Großfürst Olga eine Delegation zu Kaiser Otto I. gesandt und ihn um die Entsendung eines Bischofs und von Priestern gebeten. Adalbert, ein Mönch aus Trier, wurde daraufhin entsandt, kehrte aber wieder zurück, ohne zur Christianisierung beigetragen zu haben. Großfürst Wladimir hatte Unterstützung nicht nur in Konstantinopel, sondern auch aus dem Westen erbeten, um in seinem Reich und bei den Nachbarn den christlichen Glauben zu verbreiten. Brun von Querfurt hielt sich im Jahre 1007 in Kiew auf, um von dort die Petschenegen, ein Volk südlich von Kiew zu missionieren. Trotz Warnungen des Großfürsten Wladimir, der ihn bis zur Grenze begleitet hatte, wirkte Brun unter diesem Volk. Ihm gelang es sogar, einen Frieden zwischen ihnen und dem Kiewer Reich zu vermitteln. Verstreute Nachrichten gibt es von Kaufleuten, die von Regensburg aufbrachen und Handelsgeschäfte bis nach Kiew betrieben.

 

Die Beziehungen wurden mit Konflikten belastet, als nach der gegenseitigen Exkommunikation des Papstes in Rom und des Patriarchen von Konstantinopel im Jahre 1054 und der sich anschließend vertiefenden Kirchenspaltung zwischen lateinischen und griechischen Christen der religiöse Gegensatz auch das Verhältnis des Westens zum Kiewer Reich belastete, dort wo die Metropoliten und die übrigen Bischöfe Griechen waren, vom Patriarchen von Konstantinopel eingesetzt wurden und Polemiken gegen die römische Kirche entfachten. Georgios, Metropolit von Kiew zwischen 1065 und 1076, machte speziell die Deutschen dafür verantwortlich, die einstige Reinheit des christlichen Glaubens in Rom verdorben zu haben. Er schrieb: „Die Deutschen übernahmen das alte Rom und gewannen die Herrschaft über dieses Land. Nach kurzer Zeit gingen die alten, rechtgläubigen Männer fort, die das Gesetz Christi und der heiligen Apostel bewahrten und sich daran hielten. Danach folgten die Jungen und Ungefestigten. Sie verfielen den Lügen der Deutschen.“

 

Die berühmte Nestorchronik, die kurz nach dem Jahr 1100 verfaßt wurde, schildert die Christianisierung des Kiewer Reiches und erwähnt dabei auch Missionsversuche von Deutschen, die von Rom entsandt worden waren. Gegenüber dem Gesandten des Patriarchen von Konstantinopel, konnten sie sich aber nicht behaupten. Die Boten, von Kiew nach Deutschland entsandt, berichten enttäuscht, daß sie in den dortigen Gottesdiensten nichts Schönes entdecken könnten. Die Geistlichen und die Herrscher in Deutschland werden zum negativen Gegenbild zur eigenen Kirche und zum eigenen Reich von Kiew. In der anti-lateinischen Polemik repräsentieren die Deutschen ein verfälschtes Christentum.

 

Es war aber das Schisma zwischen West und Ost, das dazu anspornte, Kontakte zu knüpfen und Verbündete zu gewinnen. Denn es ging darum, den jeweils anderen für den wahren Glauben zu gewinnen und damit auch eine Spitzenstellung in der Heimat zu erringen. Ein möglicher Erfolg einer Bekehrung hätte das Prestige gesteigert. Die Begegnungen hatte das Ziel, innere Konflikte zu lösen. Dazu sollten auch Bündnisse mit dem jeweils anderen Herrschaftsbereich eingegangen werden. Dies war die Absicht des römischen Königs Heinrich IV. im Jahre 1075, als der Konflikt zu Papst Gregor VII. lief auf seinen Höhepunkt zulief und der Papst mehrere Bischöfe in Deutschland absetzte und mehrere Räte Heinrichs exkommunizierte. In Kiew hatten zu dieser Zeit die Großfürsten  Izjaslaw und Svjatoslaw ihren Bruder Vsevolod von der Herrschaft vertrieben. Dieser suchte nun die Unterstützung des deutschen Herrschers Heinrichs. König Heinrich wiederum suchte nach Möglichkeiten, die russische Kirche an die lateinische anzubinden und sich damit als deren Förderer zu präsentieren, der entgegen der Beschuldigungen des Papstes sehr wohl die Würde seiner Kirche, das heißt der gesamten okzidentalen Kirche zu fördern verstehe. Heinrich entsandte eine Delegation unter der Leitung des Trierer Klerikers Burchard. Empfangen wurde die Gesandtschaft von Svjatoslaw. Aber es gelang nicht, die Ansprüche von Vsewolod durchzusetzen und auch nicht die Kirchenspaltung zu beenden.

 

Gleichwohl war die Gesandtschaft wohl nicht gänzlich ohne Ergebnis. Denn einige Jahre später – 1087 - war es eine Tochter von Vsewolod – sie trug den Namen Eupraxia -, die zur neuen Ehefrau von Kaiser Heinrich IV. wurde.

 

Diese Heiratsverbindung war nicht singulär. Sie reiht sich ein in eine Anzahl von Ehen, die zwischen Angehörigen der Dynastie der Kiewer Großfürsten und westlichen Herrschern geschlossen wurden. Großfürst Jaroslaw, der von 1019 bis 1054 herrschte, war Gatte von Irina, Tochter des schwedischen Königs Olaf I.  Seine Schwester war mit Boleslaw I., König von Polen. verheiratet. Eine weitere Schwester wurde an einen polnischen Herzog verheiratet. Sein Sohn Izjaslaw heiratete eine Tochter von König Miezko II. von Polen. Sein Sohn Ilja war mit einer Schwester von König Knut von Norwegen und Dänemark eine Ehe eingegangen. Sein Sohn Svjatoslaw heiratete eine Frau aus dem Babenberger Geschlecht. Seine Töchter wurden mit den Königen von Norwegen, von Ungarn und von Frankreich verheiratet. Insbesondere letztere Ehe, die zwischen Anna und König Heinrich I. 1051 geschlossen wurde, erwies sich als politisch bedeutsam und folgenreich. Für Anna hatte ihr Vater noch bedeutendere Projekte vorgesehen, war sie doch als Ehefrau von Kaiser Heinrich III. vorgeschlagen worden, indes von diesem 1042 zurückgewiesen worden. Das durchaus schwächere französische Königtum bot sich als Alternative zu der besseren Eheverbindung an. Mehr noch: Diesmal ging es Jaroslaw darum, mittels der Verheiratung seiner Töchter mit einem Kreis von Monarchen – Frankreich, Norwegen und Ungarn – zu kooperieren, die mit dem römischen Kaisertum in Konkurrenz standen. Königin Anna von Frankreich gelang es, an der Seite ihres Gatten aktiv in die Politik einzugreifen. Im Streit zwischen dem König und den Kirchen Frankreichs sollte sie eingreifen. Das war die Bitte von Papst Nikolaus II. in einem Schreiben, das der Kirchenreformer Petrus Damianus verfasste. Beide hielten  Anna wohl für so einflussreich, daß sie glaubten, sie könne in dem Streit ihren Gatten für die Sache der Kirchenreform und gegen die weltlichen Eingriffe in die Kirche gewinnen. Der Brief formulierte, daß Anna männliche Tatkraft - virtus virilis – in ihrer weiblichen Brust habe. Vielleicht war dies mehr als nur Schmeichelei. Offensichtlich gestaltete Anna das Geschehen am französischen Hof. Ihr ältester Sohn und künftiger französischer König erhielt den Namen Philipp. Der Name war bislang noch nie im Frankenreich und in Frankreich für einen Angehörigen einer Herrscherdynastie ausgewählt worden. Der Verweis auf den makedonischen König und Vater Alexanders des Großen zugleich aber auch der Verweis auf den Apostel Philipp beruhten auf Vorbildern im byzantinischen Reich und damit auf den mit ihm verbundenen Kiewer Großfürsten, die überdies ihren Vorfahren in König Philipp von Makedonien sahen. Zu großer politischer Macht stieg Anna nach dem Tod ihres Gemahls im Jahr 1060 auf. Für den erst acht Jahre alten neuen König, Philipp I., übte sie – zusammen mit anderen Großen des Reiches – die Regierungsgeschäfte aus. In einer Urkunde des jungen Königs hieß es: „Als König Heinrich starb, habe ich, sein noch unmündiger Sohn Philipp, zusammen mit meiner Mutter die Königsherrschaft übernommen.“ Indes, die Regentschaft verspielte Anna, als sie bereits 1061 erneut heirate: Graf Rudolf von Vermandois. Dieser hatte seine bisherige Gattin verstoßen, was zur Folge hatte, daß Anna und Rudolf exkommuniziert wurden. Anna war nunmehr entmachtet. Das Wirken von Anna als Frau des französischen Königs und als Agierende im Königreich hat auch die Phantasie späterer Historiker beflügelt, die in dieser dynastischen Verbindung ein Präjudiz französisch-russischer Freundschaft meinten zu entdecken, was in der Situation vor und während dem Ersten Weltkrieg politisch instrumentalisiert wurde.

 

Angesichts der weitgefächerten Heiratsverbindungen ging es Großfürst Jaroslaw vielmehr um eine Öffnung zum Westen insgesamt. Er versuchte seine Herrschaft zu stabilisieren, auch gegenüber seinen konkurrierenden Verwandten,  indem er in Ergänzung zu den Verbindungen zum byzantinischen Reich Beziehungen zu okzidentalen Herrschern knüpfte. Inwieweit aber diese Fernverbindung für ihn tatsächlich nützlich waren und inwieweit er von ihnen profitieren konnte, erscheint doch sehr ungewiß. Jedenfalls haben die Könige, mit denen Heiratsverbindungen bestanden, weder in die Ereignisse des Großfürstentums Kiew eingegriffen noch Hilfe in dessen Kriegen gegen äußere Feinde, insbesondere die Petscheneggen, angeboten.

 

Gleichwohl: Die Heiratsverbindungen brachen nicht ab. Aber dieselben Einschränkungen gelten auch für die Ehe von Eupraxia, einer Enkelin von Jaroslaw, Tochter von Vsevolod. Seine prekäre Lage im Kiewer Reich und sein Kampf gegen seine älteren Brüder, die ihn von der Thronfolge ausschlossen, ließen ihn wiederum eine Fernbeziehung attraktiv erscheinen, genauso wie ein ebenfalls vertriebener ältere Bruder im Bündnis mit dem polnischen König Boleslav seine Herrschaft wiederzugewinnen trachtete. Die Absicht der beiden ließ sich indes nur schwer verwirklichen. Vsevolod arrangierte für seine Tochter Eupraxia eine Ehe mit einem der mächtigsten deutschen Reichsfürsten, mit Heinrich III. von Stade. Der Schritt erfolgte, um ähnliche Bestrebungen des Bruders Svjatoslav zu konterkarieren. Denn dieser hatte bereits seit 1069 Verhandlungen begonnen mit Udo von Stade, dem Vater des für Eupraxia ausersehenen Ehemanns, sowie mit Ekbert II., Markgraf von Meissen. Einer drohenden möglichen Koalition galt es zuvorzukommen. Mittels zweier Ehen suchte Vsevolod Beziehungen zum Westen. Einer seiner Söhne heiratete eine Tochter des angelsächsischen Königs Harald, seine Tochter Eupraxia war als Gattin von Heinrich von Stade bestimmt. Damit bestanden Beziehungen zu einem Fürsten, der zu den sächsischen Oppositionellen gegen Kaiser Heinrich IV. gehörte. Ob  Vsevolod über diese Konstellationen in Deutschland informiert war, ist ungewiß. Im Vordergrund stand das Bestreben, eine starke Fürstengruppe als Verbündete zu gewinnen.

 

Eheverbindungen mit katholischen Fürsten schienen zunächst noch kein Problem zu sein für einen Herrscher, der der östlichen Christenheit angehörte. Das Schisma hatte noch nicht zu einem Beziehungsabbruch geführt.

 

Das Eheversprechen wurde 1082 gegeben. Eupraxia gelangte im Jahre 1083 nach Quedlinburg. In dem dortigen Kanonissenstift (= Kloster für Frauen), in dem die höchsten adligen Damen des Reiches versammelt waren, erhielt sie eine Erziehung, die sie mit der Sprache und der Zivilisation in Deutschland vertraut machen sollte. Sie war wohl bei ihrer Ankunft 13 bis 15 Jahre alt. Wir wissen wenig über sie während dieser Zeit. Vielleicht empfand sie einen ähnlichen Kulturschock wie ihre Tante Anna, die mit dem französischen König verheiratet war und die in ihre Heimat einen Brief schrieb, in dem sie ihrem Vater klagte: „In welches barbarische Land hast du mich geschickt? Hier sind die Häuser düster, die Kirchen schmucklos und die Gewohnheiten furchtbar“

 

Leiterin des Stiftes (=Klosters) Quedlinburg war zu dieser Zeit Adelheid, die Schwester Kaiser Heinrichs IV. Die Verbindung zum kaiserlichen Haus war damit bereits angebahnt.

 

Die Chronik des Klosters Rosenfeld berichtet, daß Eupraxia mit großem Pomp, mit wertvollen Kleidern umhüllt, Edelsteine tragend und unermessliche Reichtümer mit sich führend in Sachsen und in Quedlinburg ankam. Die reiche Ausstattung, über die die Quelle berichtet, zeigt, daß hier eine hoch-politische Angelegenheit stattfand, daß die geplante Heirat ein großes Interesse seitens des Kiewer Großfürsten hervorrief und daß Eupraxia von vornherein in eine herausragende Position gehoben werden sollte. In die Beziehung wurde die Tochter und erheblicher Reichtum investiert.

 

Wann die Hochzeit zwischen Eupraxia und Heinrich von Stade stattfind, ist nicht sicher. Die Quellen schweigen darüber. Sicher ist, daß 1087, als Heinrich starb, Eupraxia als dessen Witwe bezeichnet wurde. Zu dieser Zeit wurde sie indes bereits mit ihrem neuen Namen Adelheid bezeichnet. Die Namensänderung war das sichtbare Zeichen der Akkulturation in den lateinischen Westen. Vielleicht ist ihr der neue Namen von Adelheid, der Äbtissin von Quedlinburg, verliehen worden.

 

Als Witwe kehrte Adelheid nach Quedlinburg zurück. Schnell  begannen die Vorbereitungen für die künftige Eheschließung mit dem ebenfalls verwitweten Kaiser Heinrich IV. Die Beziehung wird gewiß angebahnt worden sein durch Adelheid, die Äbtissin von Quedlinburg. Zugleich aber wurden auch Verhandlungen zwischen dem Kaiser und dem Großfürsten Vsevolod geführt, die auf eine Überwindung des Schismas zielten und damit Heinrich als Förderer der lateinischen Kirche hätte erscheinen lassen. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung, die jüngst von Gerd Althoff vertreten wurde, kann die Eheschließung Heinrichs IV. mit seiner russischen Gattin Eupraxia, jetzt Adelheid genannt, nicht allein in den Kontext einer erfolgreichen Befriedung der sächsischen Opposition gesehen werden. Die Aussicht, mit einer Tochter des Kiewer Großfürsten verheiratet zu sein und damit ein Bündnis mit ihm einzugehen, ergibt sich aus dem Handlungszusammenhang. Die Parallelität von Verhandlungen und Eheschließung ist evident. Auch der von Heinrich unterstützte Gegenpapst Clemens (III.) suchte den Kontakt mit Kiew, um damit sein Ansehen als oberster Bischof zu beweisen, dem es gelingen würde, bis in die fernsten Länder seine Autorität durchzusetzen und die ostkirchlichen Christen für die Anerkennung des päpstlichen Primats zu gewinnen. Heinrich hatte diesen Annäherungsversuch unterstützt, indem er selbst eine Delegation nach Kiew entsandt hatte.

 

Schon 1085 anläßlich einer Versammlung des Reiches in Mainz war eine Delegation von Großfürst Vsevolod eingetroffen. Offenbar ging es bereits bei dieser Gelegenheit um Heiratsverbindungen zwischen den beiden Herrscherhäusern. Da Heinrich, inzwischen zum Kaiser gekrönt, zu dieser Zeit noch mit Bertha von Turin verheiratet war, kam er als möglicher Gatte natürlich nicht in Frage. Im Jahre 1089 aber, nach dem Tod Berthas, ließ sich an die Verhandlungen wieder anknüpfen.

 

Allerdings, über den Inhalt der Verhandlungen gibt es keine Nachrichten. Insbesondere fehlt jeder explizite Hinweis auf eine Initiative von Vsevolod hinsichtlich der Heirat seiner Tochter. Ihre russische Abkunft wird indes in den deutschen Quellen mehrmals und ausdrücklich herausgestellt, auch ihre Abstammung aus der Dynastie der Großfürsten, so daß die Berichte darauf hinweisen, daß es um eine Anknüpfung von Beziehungen mit Kiew ging. Die große Entfernung zum Schwiegervater war indes ein starkes Hemmnis, den Kontakt politisch zu nutzen. Damit wird ein weiteres Motiv möglicherweise mitgespielt haben: Mit der Heirat Heinrichs und Adelheids vermied es der Kaiser, in eine zu enge Beziehung zu einer verschwägerten Familie einzutreten, die unter Umständen als Konkurrenten hätten auftreten können. Zugleich aber bot die Ehe die Chance, in der Relation zu einem der mächtigsten europäischen Herrscherhäuser, das eigene Prestige zu erhöhen. Die Ehegattin verstärkte allein durch ihren hohen Rang die Würde Heinrichs IV. Die Ehe bewies überdies, daß Heinrich durchaus in der Lage war, trotz seiner Exkommunikation, eine ebenbürtige Gattin zu gewinnen. Und die Ehe dokumentierte seinen Anspruch, universal ausgreifend, bis nach Russland, seine Beziehungen zu gestalten und damit sogar die Auswirkungen des Schismas, von den römischen Päpsten provoziert, zu mildern oder gar gänzlich aufzuheben. Die angestrebte Beziehung ließ den Kaiser als den Promotor eines Übereinkommens mit den östlichen Kirchen und damit als Wiederhersteller der Kircheneinheit erscheinen. Im Konflikt mit Papst Urban II. war dies kein geringer Anspruch, ging es doch in dem erbitterten Kampf um die Vorrangstellung in der westlichen Christenheit.

 

Indes zeigte sich eine Gegnerschaft des griechischen Klerus in Kiew gegen eine Annäherung an den Westen. Umso mehr erregte die Ehe von Eupraxia/Adelheid mit einem westlichen Christen Misstrauen. Der Metropolit von Kiew verfaßte eine Denkschrift, in der die Ehe mit Kaiser Heinrich IV. verurteilte. Eupraxia sei in die Fremde gegeben worden, wo die Verderber der Sitten lebten und nicht vor sexuellen Verfehlungen zurückschreckten. Die Stellungnahme kann später verfaßt worden sein, zu einer Zeit, als Kaiser Heinrich IV. sexuelle Perversionen vorgeworfen wurden. Darüber später mehr.

 

Die Heirat von Heinrich IV. und von Adelheid fand 1089 in der Kölner Kathedrale statt. Zugleich wurde Adellheid zur Königin geweiht. Der Krönungsordo der römischen Herrscher sah eine Liturgie der Königin-Weihe vor, die die herausgehobene Stellung zeigte. Die Königin wurde mit den biblischen Gestalten der Esther und der Judith gleichgesetzt. Damit war ihre Aufgabe als Retterin ihres Volkes, ja als durchaus kriegerische Frau, die auch mit Waffengewalt in das Geschehen eingriff, deutlich gemacht.

 

Als consors regni , wörtlich übersetzt Gattin des Reiches, hatte sie Anspruch auf Mitgestaltung an der Herrschaft im Reich, so wie ihre Vorgängerinnen in die Regierungsgeschäfte eingegriffen hatten. In einer Urkunde vom 14. August 1089 wird Adelheid genannt. Auf die Bitten und die Intervention der Königin und der Ehefrau des Kaisers erhielt die Bamberger Kirche Privilegien. Dies sollte indes die einzige Intervention Adelheids in den königlichen Urkunden sein. Anders als ihre Vorgängerinnen wurde sie offensichtlich von der herrscherlichen Gewalt ausgeschlossen. Dies ist nicht als persönliche Abwertung zu verstehen, denn allgemein zeichnete sich gegen Ende des 11. Jahrhundert der politische Bedeutungsverlust von Königsgattinnen ab.

 

Ungewöhnlich war das weitere Schicksal von Adelheid gleichwohl. Sie geriet in den Sog der Auseinandersetzungen zwischen Papst und Kaiser und wurde zur wichtigsten Zeugin für die moralische Verderbtheit ihres Gatten und damit zur Zeugin für die päpstlichen Anschuldigungen gegen ihn.

 

Zunächst begleitete sie ihren Mann bei dessen dritter Expedition nach Italien, die 1090 begann. Als gefährlichste Gegnerin des Kaisers und als mächtigste Verbündete des Papstes erwies sich dort Mathilde, Markgräfin von Tuscien. Durch die Heirat der fünfzigjährigen Frau mit dem erst 18 Jahre alten Welf V., Herzog von Bayern, im Jahre 1089 wuchs erneut die Gefahr, daß die italienischen und die deutschen Gegner des Kaisers ihre Aktionen koordinieren würden. Daher das Eingreifen Heinrichs IV.

 

In Italien eskalierten zugleich die inner-familiären Konflikte: Konrad, der älteste Sohn Heinrichs, distanzierte sich von seinem Vater, unterstützte nunmehr seine Gegner, vor allem Papst Urban II., ließ sich 1092 in Mailand von anti-kaiserlichen Personen in Konkurrenz zu seinem Vater zum König von Italien krönen und schickte sich an, auch in Deutschland seinem Vater die Herrschaft zu entreißen.

 

Zu dieser Zeit verschwindet Adelheid, die Gattin Heinrichs, aus den Quellen. In den Urkunden tritt sie nicht als Intervenierende auf. Die Chronik von Bernold vermerkt lediglich, daß sie mehrere Jahre sich in Verona aufgehalten habe und dort unter Bewachung stand. Der Chronist verwendet den Begriff custodia. Die Bedeutung ist unklar. Es kann Schutz und Bewachung, aber auch Gefangenschaft gemeint sein. Ob, wie Meyer von Knonau am Ende des 19. Jahrhunderts und mit ihm andere, deutsche Historiker bis in die jüngste Vergangenheit eheliche Untreue für einen Konflikt zwischen den beiden Gatten annehmen, kann durch keine Quellen bewiesen werden. Aus dem Schweigen der Quellen kann hingegen geschlossen werden, daß sich Adelheid nicht an der Herrschaft beteiligte, daß sie von ihrem Gatten getrennt lebte und die Ehe als politisches Debakel aufgefaßt wurde. Jedenfalls haben sich keine Kontakte, vor allem keine nützlichen Kooperationen mit dem Großfürst Vsevolod ergeben. Eine Annäherung an die russische Kirche und deren Abwendung von der griechischen Kirche wurden nicht erreicht. Allein die weite Entfernung machte koordiniertes Handeln unmöglich. Der politische Nutzen der Ehe war beendet. Auch die Aussöhnung mit dem sächsischen Adel, die mit der Heirat unter Umständen auch erreicht werden sollte, war nach kurzer Zeit hinfällig geworden.

 

Aber es kam für Kaiser Heinrich IV. noch schlimmer. Adelheid wurde zur Belastungszeugin gegen ihn. Sie wurde zum Instrument in den Händen seiner Gegner. Von Verona floh Adelheid kurz nach 1092 zu Mathilde von Tuscien. Sie trat damit in das Lager der Feinde ihres Mannes ein. Adelheid bot eine unverhoffte Gelegenheit, der Sache des Kaisers zu schaden.

 

Dies geschah, indem sie öffentlich schwere Beschuldigungen gegen ihren Mann vorbrachte. Die Bühne ihrer Vorwürfe war zunächst das Konzil zu Konstanz, das der päpstliche Legat Gebhardt leitete und der die Anklagen Adelheids gegen ihren Mann vorbrachte. Wichtiger noch war das Konzil von Piacenza im Jahre 1095. Es war eine geistliche Versammlung, die von Papst Urban II. selbst präsidiert wurde, an der zahlreiche Bischöfe, Kleriker und Laien aus Italien, teilweise auch aus Frankreich, Deutschland und Burgund teilnahmen und auf der unter anderem über die Hilfe für die östlichen Christen gegen die muslimischen Türken beraten wurde. Die große Volksmenge, der Adelheid persönlich über das skandalöse Verhalten ihres Mannes berichtete, garantierte eine weite Verbreitung der Anklagen. Die Menschenmenge, die sich versammelte, war so groß, daß sie in keiner Kirche Platz fand und  sich auf offenem Feld versammelte. Die öffentliche Bühne sorgte für eine breite Rezeption der Vorwürfe Adelheids gegen ihren Mann Heinrich.

 

Über die Vorwürfe sind wir aus späteren Chroniken und Annalen, zum Teil auch aus Briefen und polemischen Traktaten unterrichtet. Bernold von Konstanz berichtete, daß sich Adelheid über die „unerhörten Schändlichkeiten der Prostitution“ beklagt habe, die sie unter ihrem Gatten Heinrich erdulden mußte. Sie habe sich nicht anders zu helfen gewußt, als von ihrem perversen Gatten zu fliehen. In einer polemischen Schrift zur Kirchenreform behauptete der Kardinalpriester Deusdedit, daß Adelheid Anklage erhob, daß ihr Mann sie zu sexuellen Kontakten mit anderen Männern gezwungen habe. Der Kaiser wurde als neuer Nero dargestellt. Ekkehard von Aura wiederholt den Bericht, wobei er auf die Rolle des Papstes verwies, der die Darstellung Adelheids dazu nutzte, die moralischen Verworfenheit des Kaisers zu begründen und seinen Ausschluß aus dem Kreis der gläubigen Christen nochmals einschärfte. Die Annalen des Klosters Disibodenberg, kurz nach 1125 verfaßt, berichten, daß Heinrich seine Frau Adelheid nicht nur in Verona eingesperrt habe, sondern daß er erlaubt habe, daß zahlreiche Männer sie vergewaltigten. Heinrich habe sogar seinen Sohn Konrad aufgefordert, seiner Stiefmutter Gewalt anzutun. Konrad lehnte ab. Die Flucht Adelheids von ihrem Mann war eigentlich ein schweres Vergehen gegen die eheliche Treue. Auch deswegen war es den anti-kaiserlichen Autoren so wichtig, die sexuelle Perversion Heinrichs herauszustellen, um Adelheid von jeglicher Schuld freizusprechen. Lange Zeit habe sie mit Geduld und mit Schweigen die abscheulichen Gewalttaten ihres Mannes erduldet – so schreibt Gerhoh von Reichersberg. In einem Brief von Herrand von Halberstadt wird die Anklage noch schärfer: Heinrich habe die natürliche Ordnung beschmutzt, jegliches menschliche und göttliche Gesetz missachtet, an seinen eigenen Körper habe er sich versündigt und – schlimmer noch – seine eigene Frau mit unerhörten Verbrechen heimgesucht. Noch weiter zugespitzt hat der spätere Chronist Helmold von Bosau: Wie ein Ketzer, ein Nikolait, habe Heinrich seine Gemahlin der zügellosen Begier und der Gewalt anderer Männer ausgeliefert.

 

Die Anschuldigung perverser sexueller Praktiken, die Adelheid gegen ihren Gatten Kaiser Heinrich IV. erhob, die Behauptung, Opfer von ihm verübter Vergewaltigungen geworden zu sein, und die Suche nach Schutz bei der Markgräfin Mathilde waren den Anhängern des Papstes höchst willkommen. Die päpstliche Propaganda integrierte in das Bild eines Herrschers, der die Kirche unterdrückte, ihr das rechtmäßige Eigentum stahl, kirchliche Stellen selbstherrlich verteilte und die frommen Christen aus ihren Ämtern vertrieb, einen noch weitaus schlimmeren Vorwurf, nämlich den der widernatürlichen Perversion. Heinrich habe sich außerhalb der menschlichen Gemeinschaft gestellt. Die von Gott gestiftete Natur, das heißt auch die natürliche Veranlagung des Menschen, sei von ihm geschändet worden.

 

Waren die Anschuldigungen von Adelheid, die auf so fruchbaren Boden fielen, wahr? Die deutsche Geschichtswissenschaft hat die Frage fast immer verneint. Angefangen von Wilhelm von Giesebrecht und Meyer von Knonau, die am Ende des 19. Jahrhunderts vom „verworfenen Weib Eupraxia-Adelheid“ schrieben, über Gerd Tellenbach, der meinte, daß die Berichte zu tendenziös seien, um glaubhaft zu sein, bis zu Tilman Struve, der schrieb: „Die Vorwürfe sind Erfindungen der Progaganda, die allein dazu bestimmt waren, den König zu diffamieren.“ Struve verwendet den Begriff der „Schauergeschichten“. Im Lexikon des Mittelalters schreibt Rudolf Schieffer, von „schmutzigen Beschuldigungen“, die selbstverständlich unwahr seien. Frauenfeindliche und nationalistische Ressentiments verbanden sich, um Vorwürfe als erlogen abzuwerten, ohne valable Quellenzeugnisse vorweisen zu können.

 

Russische Historiker, unter ihnen C. Rotzanov schenkten den Vorwürfen von Eupraxia-Adelheid Glauben und malten dabei ein anti-deutsches Feindbild aus, welches zur sowjetischen Zeit nach dem Scheitern kommunistischen Umsturzversuche in Deutschland seit 1925 politisch opportun war und einen russischen Patriotismus fördern sollte. Mit mehr Nuancen und großem methodischen Ernst bearbeitet Vladimir Pachouto und Pouchkareva das Thema. Alexander Nazarenko vermeidet ein Urteil zur Wahrheit der Vorwürfe und konzentrierte seine Darstellung auf die politische Funktion von Eupraxia-Adelheid.

 

In der Tat, von heutiger Warte aus eine moralische Bewertung des Handelns von Kaiser Heinrich IV. vorzunehmen und den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe Adelheids zu bewerten, erscheint unmöglich.

 

Eine Begründung bietet Gert Althoff in seiner jüngst erschienen Biographie zu Heinrich IV.: Er vermutet, daß Adelheid Opfer von Misshandlungen geworden war, die üblich gewesen seien gegenüber einer Geisel. Als solche sei sie zu erachten, weil sie als Person in die Gewalt des Königs gegeben worden sei, nachdem die sächsische Opposition einen Ausgleich mit Heinrich IV. vereinbart hatte. Sobald dieser Ausgleich gebrochen worden sei, sei Adelheid der traditionell üblichen Gegengewalt, die an einer Geisel verübt würde, ausgeliefert. Es sei eine Gegengewalt, die auch vor Vergewaltigung nicht zurückschreckte. Nicht sexuelle Perversion, sondern traditionell übliche Gewalt seien ihr angetan worden. Die angeführten Argumente für diese Hypothesen erscheinen mir indes nicht stichhaltig, umso weniger als auch Gerd Althoff einräumt, keinen vergleichbaren zweiten Fall nennen zu können. Überdies basieren die Argumente darauf, daß die Ehe als das Ergebnis einer Friedensvereinbarung zwischen Heinrich und den gegen ihn opponierenden Sachsenfürsten aufzufassen sei. Die Begründung negiert die Beziehungen zum Kiewer Reich, die aber offensichtlich bestanden hatten.

 

Weiterführender ist es, die Funktion der Vorwürfe zu untersuchen. Sie sind ein zentraler Baustein im Kampf Urbans II. gegen Heinrich IV. Denn nicht allein die Person des Kaisers wird beschädigt. Vielmehr geht es auch darum, das königliche und kaiserliche Amt seines Prestiges und seiner priestergleichen Stellung zu entkleiden. Das Ordnungsgefüge, das die kaiserliche Autorität als Voraussetzung für das Heil der Christen und für das Wohl der Kirche voraussetzt, wird grundlegend zerstört. Ein neues Ordnungsgefüge soll an die Stelle treten: das einer von dem Papst gelenkten Christenheit, in der Ämter, Würden und Aufgaben nicht als unmittelbar von Gott eingesetzte Funktionen interpretiert werden, vielmehr erst durch das priesterliche Amt der Bischöfe und des Papstes legitimiert erscheinen.

 

Das Vorrecht des Geblüts als einziger Legitimationsgrund wurde seit den siebziger Jahren des 11. Jahrhunderts besonders von geistlichen Autoren in Frage gestellt. Papst Gregor VII. selbst hat in dem bekannten Brief an Bischof Hermann von Metz die tradierten Legitimationsgrundlagen des Königtums demontiert. Nicht allein wurde die sakrale Würde der Könige verneint, nicht allein bestritten, daß die Herrscher Wunder vollbringen könnten, nicht nur die Existenz heiliger Könige als seltene Ausnahme hingestellt, noch einschneidender war der Angriff auf die le­gitime Abfolge der herrscherlichen Würde vom Vater auf den Sohn. Die elterliche Sorge für die Kinder und deren Verehrung für den Vater wurden als Regungen des Fleisches ab­getan. Tugendhaft sei dies nicht. Das Herrschertum könne nicht allein durch Vererbung übertragen werden. Statt in jedem Fall den eigenen Sohn an die Spitze der Herde zu stellen, für die Christus sein Blut vergossen habe, sei es besser, den Geeigneteren  und Nützliche­ren zum Herrschen zu bestellen. Das hier erkennbare Amts­verständnis vertrug sich nicht mit einer familiär begründeten Gewalt. Die res publica verlange andere Gesetze als die die Ordnung der Familie. Für Gregor war die kirchliche Hierarchie das Gegen­bild, bei der die Bischöfe allen Menschen in Zuneigung verbunden seien, nicht auf eigene Nachkommen Rücksicht zu nehmen bräuchten und das Heil der Christenheit nicht dem Nutzen leiblicher Verwandten  vor­anstelllen würden. Funktional, nicht familiär begründeter Gehorsam wurde verlangt. Die an der Kurie konzipierten Ideen liefen darauf hinaus, abstrakte, von Personen unabhängige, allein über Institutionen und Amts­inhaber verwaltete Herrschaft zu begründen. Das Schreiben an Hermann von Metz gehört zu den am besten überlieferten Briefen Gregors VII.  Es kursierte in mehreren Exemplaren. In Chroniken und Streitschriften wurde es zitiert. Es wurde Teil des kirchlichen Rechts. Manegold von Lautenbach, ein Autor, der auf Seiten der Päpste stand, wertete das Königtum noch stärker ab. Wie einen Schweinehirten, der seinen Aufgaben nicht genüge, könne auch ein unfähiger oder verderbter König abgesetzt werden. Die Legitimität, die die Abstammung verlieh, galt nichts mehr.

 

Das hier propagierte Verständnis des Königtums ließ sich exemplifizieren im Konflikt zwischen Heinrich und Adelheid. Die Familie als Spenderin königlicher Legitimität wurde demontiert. Der Kern dessen, was königliche Würde ausmachte und dynastische Kontinuität sicherte, wurde durch den Vorwurf von Perversionen im ehelichen Verkehr vernichtet. Heinrich war das beste Beispiel dafür, wie wenig die Familie Herrschaft begründen konnte. Die Norm der guten Herrschaft des Königs galt nunmehr in kirchlichen Kreisen als unvereinbar mit einer bislang selbstverständlichen Relation von Familie, Abstammung, Herrschernachfolge und Legitimität.

 

Ein zweiter Normenkonflikt trat auf: Er betraf die Bewertung der Ehe. Im kirchlichen Recht setzte sich die Auffassung der Ehe durch, die auf dem Konsens der Ehegatten beruhte. Dieser Konsens war nicht auf die Zeit der Eheschließung beschränkt, sondern schloß gegenseitigen Willen zum sexuellen Kontakt ein. Zwang war auszuschließen. Ehen zu vereinbaren begründete außerdem eine Lebensgemeinschaft, die nicht mehr aufgelöst werden konnte. Ehen zu vereinbaren durfte auch nicht mehr oktroyiert werden. Einige Jahrzehnte zuvor standen sich die ältere Ehekonzeption und die neuere gegenüber in einem Konflikt zwischen dem Abt des Klosters Limburg und seinen Untertanen: Der Abt glaubte sich im Recht, wenn er Ehen seiner Untertanen wieder aufhob. Erst die Intervention von Kaiser Konrad II. setzte die Auffassung durch, die von der neueren rechtlichen Entwicklung gestützt war, die jede Ehe von einer Scheidung schützte.

 

Das neue Recht entwickelte sich parallel zu einer theologischen Neukonzeption: Mehr und mehr setzte sich unter den Theologen die Auffassung durch, daß die Ehe ein Sakrament sei. Sie sei von Gott selbst gestiftet. Die Entwicklung, die mit der Entscheidung des zweiten Konzils von Lyon von 1273 letztlich bestätigt wurde, hatte seit dem Anfang des 11. Jahrhunderts eingesetzt. Die Ehe war ein hohes Gut. Sie stand unter dem Schutz der Kirche.

 

Daraus ergab sich aber die Schwierigkeit, wie das Verhalten von Adelheid gerechtfertigt werden konnte, die ihren Ehemann verließ, damit die Unauflöslichkeit der Ehe verletzte und in eklatanter Weise die Pflichten einer Ehefrau mißachtete. Den gestiegenen Anforderungen an die Eheleute wäre sie nicht gerecht geworden. Dem Vorwurf ließ sich nur begegnen und zugleich zugunsten der päpstlichen Progaganda nutzen, wenn die Anschuldigung gegen Heinrich gewendet wurde. Ihm die Verletzung der ehelichen Pflichten vorzuwerfen, war daher ein entscheidender Punkt, um sowohl die Anklägerin von allen Anschuldigungen rein zu waschen als auch Heinrich mit einer Schuld aufzuladen, die die neue Konzeption der Ehe vorsah, in der stets Freiwilligkeit im Kontakt der Eheleute verlangt war. Der Vorwurf der Vergewaltigung traf damit den Kern einer geänderten Rechtsauffassung von der Ehe. Auch wenn, wie Gerd Althoff meint, Adelheid wie eine Geisel behandelt worden sei, wäre dies mit dem neuen Eherecht unvereinbar gewesen. Denn auch in diesem Fall dürfte niemals der Status einer vollberechtigten Ehefrau angegriffen werden. Die Ausbildung des kanonischen Eherechts, zu der Zeit des endenden 11. Jahrhundert einsetzend, sah die Kirche als Schützerin der Ehe an, die in ihr gesetzten Zwecke, nämlich die Zeugung von Kindern und die Zuneigung der Ehegatten, verwirklichen müsse. Daher war das kirchliche Konzil von Piacenza die angemessene Bühne, um Adelheid Schutz zu bieten und um sie als Künderin des großen ihr zugefügten Unrechts zu machen.

 

Anders als nach den Kriterien eines Wahrheitsanspruches zu suchen, den einzuhalten zwar viele mittelalterliche Autoren versprechen, um dann aber um nichts weniger zwischen fabula und historia zu oszillieren, ist auch die heutige Geschichtswissenschaft darauf angewiesen, Deutungsverfahren der mittelalterlichen Zeitgenossen in ein ihnen eigenes modernes Deutungsverfahren zu überführen. . Mit dem klassischen Instrumentarium der Quellenkritik, mit der Scheidung von verum und falsum, kommen wir nicht weiter. Die Faktizität ist in einem umfassenden Bereich zu suchen, der auch die Diskursformen, die Problembewältigungsstrategien, die Träume, die Illusionen, die ästhetischen Überformungen einbezieht. Sie sind nicht Teil eines Überbaus, der sich über die Realien wölbt, sie sind die Realien selbst. Realienkunde ist auch die Kunde von Riten, von Fantasieprodukten, von sozialen Prozeduren einer gedanklichen Interpretation und zugleich Einwirkung auf die natürliche und gesellschaftliche Umgebung, die selbst wiederum Themen von Texten sind. Intertextualität ist folglich nicht allein ein im weitesten Sinne literarisches Verfahren, es wird im Verständnis von Schmitt zu einem sozialen Verfahren und schließt eine Vielzahl von Handlungen ein.

 

Das Schicksal von Eupraxia-Adelheid bot einen reichen Stoff für Formen der Deutungen. Sie hatten Auswirkungen und sollten sie auch haben. Normvorstellungen konkurrierten miteinander und waren zu begründen. Eine Konkurrenz der Normen ergab sich vor allem aus dem Konflikt zwischen Papst und Kaiser. Es ging nicht nur um eine individuelle Verfehlung von Heinrich IV. Die Schuld hatte eine weitere  Bedeutung. Sie zeigte das Versagen eines Königs an, sofern er sich den Anweisungen der Kirche nicht unterwarf. Das Ziel bestand darin, die Priester in ihrer Aufgabe zu stärken, die Laien vom Weg der Verfehlung abzuhalten. Vergehen konnten verübt werden in der Ausübung der königlichen Herrschaft und in der Praxis des Ehelebens. Den Priestern, den Bischöfen und dem Papst sollte neue  Kompetenzen zugewiesen werden.

 

Dann ist eine Normenkonkurrenz anzusprechen, die durch die unterschiedliche geographische und kulturelle Herkunft der beiden Gatten, Heinrich und Adelheid, bedingt gewesen sein kann. Ohne hier eine kulturvergleichende Untersuchung wagen zu wollen, sei doch darauf hingewiesen, daß die isolierte Position von Eupraxia-Adelheid, die keinen Kontakt mehr zu ihrer Heimat hatte, die erkennbar keinen politischen Nutzen mehr für Heinrich darstellte, sie empfänglich machte, für Kampagnen der Propaganda genutzt zu werden.

 

Vor allem ergab sich aus der geographischen Entfernung, verstärkt noch durch die beginnende konfessionelle Spaltung der westlichen zur östlichen Christenheit, eine kommunikative Barriere. Kenntnisse über den erbitterten Kampf zwischen König Heinrich IV. und den Päpsten waren in Kiew nicht verfügbar. Kenntnisse gab es dort auch nicht über die Veränderungen des Konzeptes des königlichen Amtes und des Konzeptes der Ehe. Genausowenig bestanden Kenntnisse am Hofe Heinrichs IV. und an dem Hof der Päpste über die Auseinandersetzungen zwischen Großfürsten und Metropoliten in Kiew, die ausgefochten wurden, um die Beziehungen zum Westen zu definieren. Das Misstrauen der Geistlichen in Kiew gegenüber Kontakten zum Westen war deutlich formuliert worden. Die gemeinsame Handlungsgrundlage, auch das Verständnis des Herrscheramtes, entwickelten sich in unterschiedliche Richtungen.

 

Eupraxia-Adelheid gelangte in einer Zeit des Umbruchs und der Veränderungen aus ihrem heimatlichen Umfeld in den Westen. Auf bewährte Traditionen aufzubauen, funktionierte nicht mehr. Neue Konzepte und neue Anforderungen waren zu beachten. Lamprecht von Hersfeld, der Chronist der frühen Jahre der Herrschaft Heinrichs berichtet erstaunt, daß in der Debatte der Großen des Reiches ein neues, zuvor unbekanntes Argument, verwendet wurde: Wegen „religiöser Bedenken“ sahen sich die Äbte nicht in der Lage, dem König zu gehorchen. Eupraxia-Adelheid gelangte an den königlichen Hof, als entscheidende Transformationsprozesse abliefen. Die Voraussetzung, unter der die Ehe eingegangen war, war obsolet geworden. Königsamt und Ehe waren dabei, neu definiert zu werden. Bewährte Verfahren wurden in Frage gestellt. Sicherheiten wurden entzogen. Es gelang Eupraxia-Adelheid nicht, sich auf die veränderten Lebensumstände einzustellen. Denn dazu hätte es des Kontaktes zur ihrem heimatlichen Fürstenhof bedurft, um auf geänderte Situationen zu reagieren. Dazu wäre es vor allem nötig gewesen, daß sie gegenüber Ihrem Gatten Heinrich politisch nützlich gewesen wäre. Dies aber war wegen der getrennten Entwicklungen in Kiew und in Deutschland nicht möglich. Auf Eupraxia-Adelheid Rücksicht zu nehmen, war überflüssig. So blieb ihr nichts anderes, als zum Objekt des Kampfes zwischen König und Papst zu werden. Nützlich war sie nur noch als Zeugin der Anklage gegen ihren Gatten. Eine Verbindung zwischen Ost und West wurde von ihr nicht hergestellt.

 

Wie sehr Eupraxia-Adelheid gleichwohl als Exponentin des russischen Ostens, als eine Tochter der Kiewer Großfürsten zu gelten hat, wird daran deutlich, daß sie nach dem Scheitern ihrer Ehe wieder in ihre Heimat zurückkehrte. Über die Zwischenstation Ungarn, wo sich 1097 zog,  kam sie 1099 nach Kiew und trat dort – nach Aussage der Nestor-Chronik – in ein Kloster ein.

 

Das Scheitern der Beziehungen zwischen West und Ost, zwischen westlichem Kaisertum und Kiewer Reich, zwischen Heinrich IV. und Eupraxia-Adelheid war erstens begründet in der Diskrepanz von Normen. Weil sie sich änderten, war es schwierig für eine Landesfremde, in ein instabiles Normengefüge einzutreten. Sowohl Königsherrschaft als auch Ehe wurden neuen Anforderungen unterworfen. Beide Ehegatten haben diese Anforderungen nicht erfüllt. Die Schwere der Anschuldigung gegen Heinrich war das Ergebnis des Konflikts mit Papst Urban II. wohingegen Eupraxia-Adelheid als Zeugin der Anklage figurierte.

 

Das Scheitern beruhte zweitens auf dem Fehlen von Handlungen der Fortsetzung: Es gelang nicht, eine Beziehung zwischen den beiden Reichen aufzubauen. Die Ehe zwischen dem Deutschen und der Russin endete im Beziehungsabbruch. Sie hatte keine erkennbare Fortsetzung von Handlungen bewirkt. Vor allem gab es keinen Zusatz von Handlungen über die Tatsache der Ehe hinaus, also keine gegenseitigen Gesandtschaften, keine Absprachen, keine Kooperationen, keine Konfliktregelung, kein Bündnis.

 

Drittens war die Beziehung gescheitert, weil sie aktiv in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Aus einer Eheverbindung wurde der Anlaß zu Schuldzuweisung. Aus der Beziehung wurde ein Argument, um Heinrich IV. die Befähigung zum König abzusprechen. Mehr als nur ein Fehlen von Beziehung gab es eine konträre Relation. Somit hatte die Ehe zwischen Heinrich und Adelheid-Eupraxia durchaus Konsequenzen. Es waren aber Konsequenzen, die nicht in der Eigenschaft der Eheverbindung angelegt waren, vielmehr nur durch die Negation ihrer Bedeutung wirkten. Mehr als nur Beziehungsabbruch, gab es vielmehr Umkehrung der Beziehung. Die Rückkehr von Eupraxia in ihre Heimat in Kiew war die deutlichste Korrektur einer gescheiterten Beziehung.

 

War das Scheitern symptomatisch für Verbindungen der Diplomatie und der Eheanbahnung zwischen dem Reich von Kiew und den westlichen Königreichen? Ich glaube ja. Die weite Entfernung machte es unmöglich, koordiniertes Handeln zu vereinbaren. Ehen endeten stets in der Isolierung des in die Fremde entsandten Ehepartners. Der beginnende konfessionelle Gegensatz erschwerte zusätzlich die Beziehungen. Seit dem Kreuzzugsaufruf Papst Urbans II. im Jahre 1095 richtete sich das Interesse des Westens auf das Heilige Land. Auch die Handelsverbindungen zu den muslimischen Gebieten konzentrierten sich mehr und mehr auf das Mittelmeer, während der Warenaustausch über die großen russischen Flüsse über die Ostsee nach Westeuropa eingestellt wurde. Das westliche Europa verlor das Interesse an Kiew und an Russland insgesamt. Die Kräfte und die Aufmerksamkeit waren absorbiert durch den Kontakt und den Konflikt mit den Muslimen an den Küsten des Mittelmeers.

 

Die Beziehung zwischen Heinrich und Eupraxia-Adelheid war mehr als nur Episode, so bewegt sie auch gewesen sein mag. Sie zeigte einen Wechsel an, der zu einem Mangel an Aufmerksamkeit und zum Abbruch der Beziehungen führte. Nur das Großfürstentum Novgorod war davon ausgenommen durch den Kontakt zu der deutschen Hanse. Erst seit dem 16. Jahrhundert sollte ein erneuter lebhafter Austausch mit Russland einsetzten, diesmal mit dem neuen Zentrum Moskau.